ein Stück von Volker Umpfenbach
nach einer Idee von Fritz Wörthmüller
Version vom 15.04.96
© 1996
Auf der Bühne spannt sich das Geländer einer Brücke von links nach rechts, düstere Beleuchtung, nach Möglichkeit Nebel, im Hintergrund sind Wolken skizziert. In der Mitte des Geländers befindet sich ein Laternenmast, an ihm ein Schild “Spandaubrücke / Höhe 36 m! Achtung Lebensgefahr! “
Wie in Trance betritt der Selbstmörder die Bühne und überquert langsam die Brücke. Er passiert das Schild, ohne es wahrzunehmen, dann stockt er plötzlich, geht zurück und liest es, indem er jede Zeile einzeln abtastet.
Er fährt über die Worte “Spandaubrücke” und nimmt erst jetzt wahr, wo er sich befindet. “Höhe 36!” er beugt sich weit und langsam über das Geländer hinaus. “Achtung Lebensgefahr!” Auf einmal sehr leicht und spielerisch springt er auf das Geländer und kreist ein paar Mal um den Masten, dreht sich dann langsamer und fällt in den Trancezustand zurück.
Ein kurzer Blick zum seitlichen Bühnenaufgang, er sieht jemanden kommen, stockt und klammert sich plötzlich ängstlich an die Laterne, scheinbar bereit jeden Moment zu springen. Der Retter betritt die Szene, ein einfacher junger Mann, etwas naiv. Er hat den Selbstmörder als solchen wahrgenommen, und mit dieser Situation eigentlich überfordert hat er sich entschlossen, einen Rettungsversuch zu unternehmen. Sein Bemühen, seine Unruhe zu verbergen, ist offensichtlich. Er lehnt sich ein paar Meter vom Selbstmörder entfernt ans Geländer und betrachtet den Horizont.
Retter: Sehen Sie nur, ein Gemälde grau in grau – und doch, diese Formen, eine junge Frau …
Selbstmörder: Kommen Sie nicht näher! Lassen Sie mich bloß in Ruhe! Ich springe!
Retter: (beängstigt) ruhig, alles was Sie wollen – aber sehen Sie doch, eine junge Frau, ein Kirchturm, ein weißer Schimmel, so schön und rein.
Selbstmörder: Hauen Sie ab! Frauen, Kirchen, Pferde – dass ich nicht lache! Weg mit Ihnen!
Retter: Aber warum denn? Es ist so schön hier. Warum wollen Sie denn diesen Abend nicht einfach genießen? Ist es der Vollmond, der Sie beunruhigt?
Selbstmörder: Ich bin auf dieses Geländer gestiegen, um meinem Leben ein Ende zu setzten, das hat nichts mit Vollmond zu tun, und das Einzige, das stört, sind Sie.
Retter: (von der Klarheit und Bestimmtheit dieser Worte noch mehr erschreckt, fast verzweifelt) Aber was treibt einen jungen, aufstrebenden Mann zu solch einem Schritt?
Selbstmörder: Die Langweile – aber das würdest du sowieso nicht begreifen.
Retter: Nein, das begreife ich wirklich nicht, denn Langweile lässt sich so leicht vertreiben.
Selbstmörder: Was denn? Gehst du ins Kino? – Ich habe mein eigenes, keine Abwechslung. Was auch immer deine spärlichen Stunden Freizeit erhellt, habe ich zu häufig getan, als dass es mich noch ablenken könnte.
Retter: Weniger ist manchmal mehr.
Selbstmörder: Ja? Solche Sprüche haben sie euch von der Wiege an eingetrichtert, es ist erstaunlich, mit wie billigen Mitteln sich die Masse zufrieden stellen lässt. – Also ich springe jetzt.
Der Selbstmörder tänzelt noch einmal um den Masten und setzt zum Sprung an. Der Retter zuckt zunächst zusammen, dann fasst er sich und versucht auffällig ruhig zu wirken.
Retter: (plötzlich pfiffig) Nein, Sie springen noch lange nicht, sind noch nicht bereit, üben Sie doch erst ein paar Mal.
Selbstmörder: (ungläubig) Bitte?
Retter: (selbstsicher) Ja, ich sehe das, Sie müssen noch üben, sind noch nicht so weit …
Der Selbstmörder bricht abrupt in höhnisches Gelächter aus, die letzte Selbstsicherheit des Retters verliert sich.
Selbstmörder: Woher hast du bloß deine Beruhigungsstrategien? Aus welchem der vielen Schundromane deiner Frau? Oder doch aus den billigen Fernsehserien?
Retter: (verletzt) Sie machen sich lustig über mich, das ist doch nur Theater, das Sie veranstalten, Sie halten mich zum Besten. Ade.
Der Retter wendet sich ab und will die Bühne verlassen, bleibt aber, als er zurückgerufen wird.
Selbstmörder: Halt, sei mir nicht böse. Ja, vielleicht ist es ein Scherz, vielleicht aber auch ernst. Das Leben ist hart, für die meisten zu hart. – Wie kommt es, dass dich mein Vorhaben so erschüttert? Was liegt dir an einem wie mir?
Retter: Ich weiß nicht, eigentlich nicht mehr als an jedem anderen. Aber Sie schienen in Not, wie könnte ich da kalt, unberührt bleiben, der Tod kann doch keine Lösung sein.
Selbstmörder: Warum nicht? Liegt unser Leben denn nicht in unserer Hand? Sind wir denn nicht frei? Frei in jeder Situation?
Retter: Aber manchmal muss man eben vor sich selbst geschützt werden.
Selbstmörder: Wir sind also unmündig? Vor wem? Unseren Bekannten? Dem Gesetz? Der Gesellschaft? Oder glaubst du an Gott? – Dein Gesicht gefällt mir nicht, mein Freund. Was ist es, das dich so betrübt?
Retter: Ich weiß nicht, auf einmal bin ich so – müde.
Selbstmörder: Hör zu, ich will dir von mir erzählen. Schon gleich nach der Schule stieg ich bei einer Plattenfirma höher und höher. Heute entscheide ich über die Stars von morgen.
Retter: Ja? Wie schön. Ich arbeite in einer kleinen Werkstatt, wir bauen Betten, Schränke und Tische. Ich kann mir nicht viel leisten, eine kleine Wohnung, aber ich spare mir etwas.
Selbstmörder: Ja, dein kleiner, bedeutungsloser Posten an der Maschine …
Retter: Aber doch nützlich, andere brauchen die Dinge, die ich schaffe!
Selbstmörder: … aber du weißt selbst, jeder andere kann dich ersetzen oder besser noch, dein Chef wartet darauf, eine weitere Maschine.
Der Retter schweigt betroffen.
Selbstmörder: Und auf dein mühevoll Erspartes stützen sich deine Träume… du weißt, sie werden sich nie erfüllen, und selbst Geld macht nicht glücklich. Ich besitze mehrere Häuser, zwei Yachten und alle Autos, die mir gefallen, mehr Geld als Wünsche …
Retter: (traurig) Aber dann müssten Sie doch glücklich sein …
Selbstmörder: Früher half es mir in einsamen Stunden, mich in meinen Lamborghini, das ist einer der ganz wenigen, zu setzen und zu träumen. Manchmal küsste ich seine Armaturen und die Motorhaube — das alles hilft nun nicht mehr, ich rannte und rannte, jeder Erfolg sollte mich selbst verwirklichen, aber jeder Sieg entfremdet dich dir selbst und die Niederlagen zerstören, was bleibt.
Der Retter beginnt zu grübeln, er lehnt über das Geländer und starrt in die Tiefe. Der Selbstmörder setzt sich, seine Beine baumeln über dem Abgrund.
Retter: Sind Sie verheiratet?
Selbstmörder: Wo Geld ist, sind auch Frauen, doch sie lieben nicht dich, keine Hilfe, keine echten Vertrauten.
Retter: Welch schlimme Gedanken …
Selbstmörder: Wohin ich auch gehe, der verführerische Duft klebt an mir, in meiner Kleidung, den Autos, meiner Haltung … Geld lässt sich unter keinen Umständen verstecken. Sie sehen und riechen es sofort.
Retter: Meine Frau liebt…
Selbstmörder: Ja? Deine Frau – sie lernte dich kennen, jung und dynamisch, voller Ideen und Ziele …
Retter: (träumt) Es war nach meinem Abschluss, eine schöne Zeit.
Selbstmörder: Ja, erinnere dich an ihre Umarmungen, an ihre Küsse, viel wird davon nicht geblieben sein. (kalt) Sie war noch naiv — unerfahren glaubte sie an dich, wollte dir glauben … ihre Träume von Deinem Aufstieg sind dahin…
Retter: Nein, aber sie …
Selbstmörder: … das, was sie einst zu sein wünschte…
Der Retter schüttelt halb ungläubig den Kopf, auf der anderen Seite, gehen ihm die Worte nahe, er versteht, was sie bedeuten, fürchtet, sie als Wahrheit erkennen zu müssen.
Selbstmörder: …und eure Kinder überzeugen sie von ihrem Alter und dem beginnenden körperlichen Verfall.
Retter: Aber wir sind doch noch so jung …
Selbstmörder: (fast bedauernd) Du lebst in dem Gedanken an die Liebe, die längst nicht mehr ist.
Retter: Wieso, wie können Sie …
Selbstmörder: Wann hat dich deine Frau das letzte mal freudig erwartet, die Kinder zu den Großeltern gebracht, eine Flasche Sekt bereitgestellt?
Retter: (überrascht) Woher wissen Sie? (traurig) …es ist … zu lang her, nur ein Traum … . (halb fragend) Sie liebt mich nicht mehr und hat mich vielleicht nie geliebt …
Selbstmörder: (scharf) Liebe! Ihre Liebe ist nichts als ein Märchen, das wir den Frauen zu gerne glauben, da es uns fallend ein Gefühl der Sicherheit gibt, ausblutend ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit.
Retter: Aber… (verzweifelt) was, was soll ich denn machen, was habe ich denn falsch gemacht?
Selbstmörder: Nichts und nichts, das ist es ja. Du hast keinen Einfluss und keine Schuld, es kommt wie es kommen muss, zum schlechtest möglichen Ende — für dich. (Pause) Sieh nur den Mond, diese Gemälde in den Wolken, die Greisin, das Messer, den Schädel und dort unten der Fluss …
Retter: Wenn es mir schlecht geht höre ich meistens Musik, Bach, Mahler, am liebsten Khatchaturian, das Klavierkonzert …
Selbstmörder: (mitleidig) dieser Stümper Khatchaturian, sein Leben lang nur geklaut und doch nicht mehr als eine Handvoll Werke zu Ende gebracht.
Retter: (den Tränen nahe) Was kann man auf dieser Welt aus seinem Leben machen?
Selbstmörder: Nichts, das sagte ich schon.
Der Selbstmörder stellt sich wieder auf das Geländer und reicht dem Retter seine Hand.
Selbstmörder: Komm …
Retter: (fährt auf, erschrocken, zögernd) Nein!
Selbstmörder: Was hält dich? Nenne mir einen wirklichen Grund …
Der Retter sackt wieder in sich zusammen.
Selbstmörder: Komm!
Der Retter ergreift die Hand und steigt schwankend neben dem Selbstmörder auf das Geländer.
Selbstmörder: Es ist so einfach, ein kleiner Schritt nach vorn …
Retter: (müde) Aber …
Selbstmörder: (vertraut, beruhigend) Ruhig mein Freund — dieses eine und letzte Mal musst du mutig sein, es lohnt sich. — Wir schließen die Augen und ich zähle bis drei … eins – zwei — drei.
Der Retter hat auf Anweisung seine Augen geschlossen und bei “drei” sträubt er sich noch kurz, tritt dann aber zögernd nach vorn und stürzt lautlos in die Tiefe, seine Hand entgleitet der Hand des Selbstmörders, der stehengeblieben ist.
Selbstmörder: (höhnisch) Oh mein Junge, ein weiterer kleiner Fehltritt, so wie dein ganzes Leben ein einziger Fehler war.
Wieder leicht und spielerisch dreht dieser sich ein paar Mal um die Laterne, fällt langsam wieder in Trance. Langsam gleitet er vom Geländer zurück auf die Brücke und geht langsam Richtung Bühnenaufgang, plötzlich stürzt eine junge Frau auf die Bühne und beugt sich weit über das Geländer.
Frau: (entsetzt) Um Gottes Willen! Wie grauenhaft, er ist gesprungen, er hat sich in den Tod gestürzt!
Erst jetzt nimmt sie der Selbstmörder wahr und dreht sich zu ihr.
Selbstmörder: (ruhig) Ich habe versucht ihm zu helfen, doch es war nichts zu machen. Sein Leben langweilte ihn, er hatte keine Wünsche mehr, zuviel Geld. Es erregte ihn nicht mehr, seinen Lamborghini zu küssen.
Er lehnt sich neben sie an das Geländer.
Frau: Wie schrecklich, wie einsam er gewesen sein muss.
Selbstmörder: Er lehnte jede Näherung ab, er hatte Angst seines Geldes beraubt zu werden. Insbesondere von Frauen …
Der Blick der Frau begegnet dem Blick des Selbstmörders, dann betrachtet er die Wolken. Die Frau folgt seinen Augen.
Selbstmörder: (er deutet in die Ferne) Sehen Sie nur, dieses Grau in Grau – und doch so frohe Formen. Eine junge Frau, das könnten Sie sein, ein Kirchturm und ein Schimmel. Und darüber der volle Mond …
Frau: (versunken) Ja, es ist wunderschön.
Selbstmörder: (ebenfalls in Gedanken) An solchen Abenden höre ich am liebsten Musik, Bach, Mahler oder Khatchaturian …
Frau: Dem Armenier.
Selbstmörder: Ja, seine wunderbaren Klavierkonzerte. — Oh, sehen sie, der Hengst fliegt ihr entgegen, Liebe steht in jeder Bewegung des Himmels.
Frau: Sie müssen so anders seine als dieser arme Tote dort unten, fortgeschwemmt im Fluss. Sie sind so lebendig, phantasievoll …
Selbstmörder: (er übergeht ihre Worte) Erkennen Sie sich selbst dort im Himmel? Ein Bild der Götter …
Frau: (schaut beschämt nach unten) Und Ihre Worte scheinen mir so … zärtlich.
Die beiden schauen sich an, ihre Blicke bleiben aneinander haften.
Selbstmörder: Um die Ecke ist ein kleines Café, das noch geöffnet hat. Darf ich Sie einladen?
Er streckt seinen Arm einladend aus und sie verlassen Arm in Arm die Bühne.
Ende.