Wir handeln täglich, treffen täglich Entscheidungen, versuchen unser Leben gemäß unseren Wünschen und Prinzipien zu steuern. Dabei gehen wir stillschweigend davon aus, dass wir eine Wahl haben, frei sind, zwischen zwei oder mehreren Alternativen zu wählen.
Aber entspricht das der Realität? Natürlich wissen wir, dass wir gewissen Zwängen unterliegen, dass wir uns nicht entscheiden können, uns Flügel wachsen zu lassen oder gegen physikalische Gesetze zu verstoßen. Genauso sind wir uns bewusst, dass wir gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt sind, konditioniert wurden und uns vielleicht in der gleichen Situation völlig anders verhalten würden, wären wir in einer anderen Kultur aufgewachsen. Aber im Großen und Ganzen gehen wir davon aus, frei zu sein, zu tun und zu lassen, was wir wollen.
Aber bedeutet die Möglichkeit, zu tun was man will, auch automatisch Freiheit? Hierzu ein Gedankenexperiment: Eine Laborratte erhält zwei unterschiedliche Formen von Futter, die völlig identisch aussehen und identisch schmecken. Jedoch enthält das eine Futter einen Stoff, der aggressiv macht, das andere ein Mittel, das die Ratte zahm stimmt. An Tagen, an denen die Ratte das erste Futter bekommt, hat sie aus ihrer Sicht “einen schlechten Tag” und wenn jemand sie streicheln will, dann beißt sie ihn in den Finger. An Tagen mit dem zweiten Futter, fühlt sie sich liebebedürftig und zutraulich, lässt sich streicheln etc. Die Ratte macht immer das, was sie will: Sie beißt in den Finger, wenn sie in den Finger beißen will, sie lässt sich streicheln, wenn sie sich streicheln lassen möchte. Da jedoch jemand den Willen der Ratte beeinflusst, ist sie offensichtlich NICHT FREI.
Aber was bedeutet das für uns? Woher kommt unser Wille, der allem Anschein nach nicht durch versteckte Beisätze in unseren Lebensmitteln gesteuert wird. Mangels anderer Modelle gehe ich nun zunächst davon aus, dass wir Menschen und der Rest der Welt nur aus Objekten zusammengesetzt sind, wie sie von der Physik, insbesondere der Quantenmechanik, beschrieben werden. In diesem Modell sind wir sehr komplexe, sich selbst regulierende Systeme, sozusagen biologische Roboter. Unser Gehirn ist ein unglaublich komplexes Netzwerk aus Neuronen, unsere Gedanken und Wünsche elektrische Muster in diesem Geflecht. Sehr stark vereinfacht und bildlich gesprochen, hängt davon, ob ein Strom in meinem Gehirn nach rechts oder nach links fließt, ab, ob ich mich entscheide ins Kino zu gehen oder zu Hause zu bleiben. In vielen Fällen lässt sich das Verhalten eines Menschen vorhersagen: Wir werden heute Abend fast alle ins Bett gehen und morgen aufstehen und zur Arbeit gehen. Es muss aber zwangsläufig Situationen geben, in denen die Entscheidung auf der Kippe steht. Wo entscheidet sich, ob der Strom nach rechts oder nach links fließt?
Aus den Ergebnissen der Quantenmechanik folgt, dass, wenn die Wahrscheinlichkeit zweier Situationen genau 50/50 ist, die Entscheidung auf subatomarer, auf Quantenebene fällt. Hier regiert der reine Zufall. ¹ Einstein glaubte nicht an diese Ergebnisse der Quantentheorie und prägte den Satz “Gott würfelt nicht.” Erst nach Einsteins Tod konnten diese Ergebnisse experimentell bestätigt werden. Was bedeutet das für uns?
Zunächst bedeutet es, dass wir nicht determiniert sind, dass jetzt noch nicht fest steht, was morgen mit uns passiert. Dieses Ergebnis war somit ein Befreiungsschlag, denn aus den Ergebnissen Newtons zweihundert Jahre zuvor und der Annahme, dass die Welt aus kleinen Kugeln, den Atomen bestehe, folgte der Determinismus. Gemäß diesem Modell wäre die Welt wie ein perfekter Billardtisch gewesen. Sind die Kugeln einmal in Bewegung gesetzt, steht fest, was passiert, wo die Kugeln jetzt, in einer Sekunde, in einer Minute, in einem Jahr sein werden.
Wir sind also nicht determiniert. Aber bedeutet Nicht-Determination automatisch Freiheit? Nein. Wie bereits gesagt fällt die Entscheidung für unseren Willen auf Quantenebene, in der die Gesetze des Zufalls herrschen. Wir sind also keine berechenbare Billardkugel sondern eher ein geworfener Würfel. Solange der Würfel in der Luft ist, kann er auf der eins oder auf der sechs landen, aber der Würfel kann sich nicht entscheiden, das eine oder das andere zu machen. Wir entscheiden durchaus, zu machen was wir wollen, aber wir können nicht entscheiden, was wir wollen. Die Ratte aus dem Gedankenexperiment wäre nicht freier, wenn ihr statt des Laborleiters eine Maschine nach einem Zufallsprinzip einen Tag Futter A und am anderen Futter B geben würde. ²
Demzufolge bin ich also nicht frei. Das Problem ist: ich fühle mich frei. Ein Leben unter der Prämisse, dass ich nicht für mein Handeln / Denken / Wünschen verantwortlich bin, erscheint mir unmöglich. Dieses Dilemma lässt sich mit folgender Argumentation, frei nach Pascal³ lösen.
Die Nichtfreiheit folgte aus den Annahmen, dass wir “biologische Roboter” sind und dass die Quantenmechanik eine zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit ist. Es gibt zwei Möglichkeiten: Erstens, diese Annahmen und die Folgerungen sind zutreffend und wir sind nicht frei. Zweitens, die Annahmen und / oder Folgerungen sind falsch, und wir sind trotz der schlüssigen Argumentation frei.
Komme ich für mich zu der Entscheidung, dass ich nicht frei bin, dann gibt es wiederum zwei Fälle. Falls ich tatsächlich unfrei bin, dann hatte ich zwar Recht, aber ich konnte mich gar nicht anders entscheiden. Bin ich hingegen frei, dann habe ich einen Fehler gemacht, für den ich verantwortlich bin.
Entscheide ich mich trotz der oben genannten Argumente, an meine persönliche Freiheit zu glauben, dann gibt es wieder zwei Fälle: Falls ich tatsächlich unfrei bin, dann liege ich mit dieser Entscheidung falsch, kann aber nichts dafür, denn ich konnte mich nicht frei entscheiden. Bin ich hingegen frei, dann habe ich die richtige Entscheidung getroffen.
Bin ich unfrei, hat sich somit jede Frage erledigt: ich komme zu der Entscheidung, die mir die Physik vorgibt. Bin ich frei, kann ich mich entweder irren, mit der Annahme unfrei zu sein, oder ich nutze meine einzige Möglichkeit etwas richtig zu machen, nämlich an die Freiheit zu glauben.
Somit ist die Entscheidung für mich klar. Notwendigerweise folgt daraus auch, dass die oben geführte Argumentation einen Fehler enthält. Ich glaube, dass dieser Fehler in der Annahme liegt, dass wir biologische Roboter seien. Ich gehe also davon aus, dass es mehr gibt, als die (bisher existierende) Physik beschreibt, dass es einen Raum, eine weitere Ebene gibt, in der Platz ist für unsere Freiheit, eventuell eine (unsterbliche?) Seele und weiteres.
Stand 2003. 1. Fassung von März 1994
Nachtrag 2018 zu den Begriffen Wille und freier Wille
Ende 2018 habe ich oben stehende Gedanken mit meinem Bekannten Raimund R. diskutiert, der studierter Physiker ist. Als erster Gesprächspartner in den über 20 Jahren seit Entstehung der ursprünglichen Fassung dieses Textes, hat Raimund mich gefragt, wie ich “Wille” und “freier Wille” definiere. Eine wirklich gute Frage, auf die ich zunächst keine Antwort hatte. Die folgenden Punkte entstammen meinem Versuch, diese Fragen zu beantworten.
Definition Wille
Messbarer Zustand A in einem Gehirn eines Lebewesens, der mit einer zeitlich folgenden Aktion B des Lebewesens korreliert. In der Regel führt B dazu, dass A verschwindet, was aufgrund der Korrelation bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Lebewesen die Aktion B kurz darauf erneut ausführt sinkt.
Dabei soll die Formulierung “messbarer Zustand” sich auf eine bestimmte Konfiguration des Gehirns beziehen, die sich ausschließlich aus dem chemischen und physikalischen (elektronische Ladung, ggf. Temperatur etc.) Zustand der Zellen des Gehirns bzw. einer Teilmenge dieser Zellen ergibt. Es ist nicht gefordert, dass es ein entsprechendes Messgerät mit den damit verbundenen Analysemöglichkeiten heute schon gibt oder heute auch nur vorstellbar ist.
Ich vermeide bei dieser Definition ganz bewusst jeden Bezug auf den sehr komplexen und kaum zu definierenden Begriff Bewusstsein. Mir reicht hier, dass ein Zustand mit einer Aktion korreliert. Fasst man den oben verwendeten Begriff “Gehirn” sehr weit und dehnt diesen auf ein beliebiges Nervensystem aus, dann hat zum Beispiel eine Muschel “den Willen” sich zu schließen, wenn ihre Nervenzellen eine ungewöhnliche Turbulenz – z. B. verursacht durch einen vorbeischwimmenden Taucher – feststellen.
Freier Wille Aspekt 1
Es lässt sich – auch mit theoretischen beliebig guten naturwissenschaftlichen Messgeräten und entsprechenden Analysemöglichkeiten – weder ein Zusammenhang mit dem Input des Gehirns, vorhergehenden Zuständen des Gehirns noch mit zufälligen aber identifizierbaren Auslösern (z. B. Quantenereignisse) finden, die A auslösen. “Mystische Quelle des Willens”.
Die bloße Komplexität des Gehirns, seines Zustands und Inputs sowie die Beschränktheit von existierenden Messgeräten und Analysemöglichkeiten etabliert explizit keinen “freien Willen”.
Gibt es keine solche mystische Quelle, dann unterliegt der Wille dem naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkung-Zusammenhang. Von Freiheit des Willens kann dann schwer die Rede sein.
Freier Wille Aspekt 2
Wenn das Gehirn des Lebewesens, in Zustand A ist, aber Zustand A nicht immer zu Aktion B führt, auch wenn es keinerlei äußere Hindernisse gibt, dann könnte man von freiem Willen sprechen, sich für oder gegen etwas zu entscheiden, wenn man egal wie genau man misst, im Zustand des Gehirns keinen Unterschied erkennen kann, aus dem sich ableiten lässt, ob das Lebewesen B durchführen wird oder nicht. “Mystische Quelle der Freiheit zu entscheiden”.
Gibt es jedoch solche Unterschiede, so dass z. B. in einem Zustand A’ erkennbar ist, dass das Lebewesen B gerne machen, es aber ohne äußeren Zwang stets unterlässt, dann drückt A’ den ambivalenten Willen des Lebewesens aus, B zu wollen aber auch nicht zu wollen, wobei das Nicht-Wollen überwiegt.
Auch hier gilt analog zum Aspekt 1, dass Freiheit ohne mystische Quelle schwer als Freiheit zu bezeichnen ist. Allerdings würde es reichen, wenn es eine der beiden mystischen Quellen gibt.
Freier Wille Aspekt 3
Möglichkeit des Lebewesens B zu tun, wenn sich sein Gehirn in Zustand A befindet. Insbesondere müssen ihm also die Mittel für B zur Verfügung stehen, es darf keine (außerhalb des eigenen Gehirns liegenden) Umstände geben, die es von B abhalten. “Freiheit seinem Willen zu folgen”. So wichtig dies für die Zufriedenheit oder gar das Überleben des Lebewesen sein mag, hat es nichts mit “freiem Willen” an sich zu tun.
Ebenso wie im oben stehendem Gedankenexperiment mit der Ratte und den zwei Sorten Futter, ist das subjektive Gefühl, keinen einschränkenden äußeren Zwängen ausgesetzt zu sein, m. E. keine ausreichende Definition von “freiem Willen”.
Abgrenzung zu Computern
Die oben stehende Definition von Willen setzt ein Lebewesen mit auf Nerven basierenden Gehirn voraus. Damit stellt sich von vornherein nicht die Frage, ob ein Computer einen Willen hat. Aspekt 1 und 2 des freien Willens zeigen aber bei analoger Anwendung deutlich, dass sich bei Computern mit zumindest theoretisch immer nachvollziehbaren Abläufen niemals die Frage nach einer “mystischen Quelle” stellt.
Falls jemand doch diese Überlegungen vertiefen will, schlage ich vor, zunächst einen sehr simplen technischen Apparat zu betrachten, beispielsweise einen Thermostat. Hier würde dann z. B. der Zustand “Temperatur kleiner als 21° C” den “Willen” ausdrücken, die Heizung anzuschalten. Wer der Meinung ist, dass dies beim besten Willen, nicht als Wille bezeichnet werden kann, möge mir dann gerne den Unterschied zu einem erheblich komplexeren Beispiel erklären, etwa einem Computer, auf dem ein kompliziertes neuronales Netzwerk Entscheidungen trifft.
Hinweis zur Messbarkeit
Oben stehende Definition setzt voraus, dass es einen naturwissenschaftliche erklärbaren Zusammenhang zwischen Zustand des Gehirns und folgendem Verhalten gibt. Gäbe es diesen Zusammenhang nicht, auch nicht zu einer anderen naturwissenschaftlichen Methoden zugänglichen Quelle, könnte man ebenfalls von freiem Willen sprechen. Mir erscheint dies jedoch so stark im Widerspruch zu unseren Kenntnissen, dass ich diesen Aspekt vorausgesetzt habe.
Fußnoten zum Haupttext
¹ Alternative Interpretationen der Quantenmechanik, insbesondere zu nennen wäre die De-Broglie-Bohm-Theorie, gehen davon aus, dass die Welt auch im Allerkleinsten deterministisch ist. Dazu müssen sie jedoch davon ausgehen, dass es sogenannte Verborgene Variablen gibt, die den Ausgang der Zukunft festlegen, von uns jedoch niemals beobachtet werden können. Es gibt und wird keine experimentelle Möglichkeit geben zu unterscheiden, welche Interpretation der Quantenmechanik korrekt ist. Da eine deterministische Welt von vornherein Willensfreiheit ausschließt, geht mein Text von einer nicht-deterministischen Welt aus. zurück
² Es gibt sogar Quanten-Physiker, die davon ausgehen, dass sich das Universum mit jeder Quantenentscheidung aufspaltet, in eine Welt, in der Möglichkeit 1 passiert ist, und in eine Welt, in der Möglichkeit 2 passiert ist. Daraus ergibt sich eine unvorstellbar große Anzahl von Universen, alle Welten, die sich aus dem Urknall heraus entwickeln konnten, existieren nebeneinander. So gibt es viele Welten, in denen Du diesen Text liest, andere, in denen es den Text nicht gibt, und viele Welten, in denen es überhaupt keine Menschen gibt. Freiheit ist in einem solchen Universum nicht möglich, denn zu jeder beliebigen Variante gibt es eine passende Welt, in der ein Ich existiert, dass denkt, es habe sich für genau diese Variante entschieden, ohne von den anderen Ich’s zu wissen, die sich anders entschieden haben. zurück
³ Der französische Mathematiker und Philosoph Pascal (1623 – 1662) sagte, dass es im Leben nur eine wirklich entscheidende Frage gibt: Glaube ich an Gott oder nicht? Für ihn liefert eine einfache, rationale Überlegung die Antwort auf diese Frage.
Es gibt zwei Möglichkeiten: Gott existiert oder Gott existiert nicht.
Entscheide ich mich, nicht an Gott zu glauben, dann kann ich sonntags ausschlafen, fluche und saufe, betrüge und lüge. Existiert Gott nicht, dann hatte ich ein intensives Leben und danach ist Ende. Existiert Gott hingegen, komme ich in die Hölle, auf immer und ewig.
Entscheide ich mich hingegen für Gott, dann verzichte ich auf die eine oder andere Versuchung und bete regelmäßig. Wenn Gott nicht existiert, dann waren diese Einschränkungen umsonst, existiert Gott hingegen, komme ich ins Paradies für den Rest der Unendlichkeit.
Pascal, er ist einer der ersten Wahrscheinlichkeitsrechner und Spieltheoretiker, vergleicht nun Einsatz und Gewinn in diesem “Spiel des Lebens”. Er kommt zu dem Schluss, dass das Schmoren in den ewigen Feuern der Hölle ein gewaltig hoher Preis für den Gewinn, die Vorteile eines unmoralischen Lebens sei. Der Preis, auf einige weltliche Vergnügungen zu verzichten, sei hingegen gering dafür, die Unendlichkeit im Paradies zu erlangen. Somit könne man mit dem Nicht-Glauben wenig gewinnen und viel verlieren, mit dem Glauben hingegen wenig verlieren und viel gewinnen: Damit, so Pascal, sei die Entscheidung klar. zurück